IAK Theolinguistik in Prag, 27.05.2011


während der Linguistik-Tage der Gesellschaft für Sprache und Sprachen e.V., Prag, Tschechische Republik, 26.-28. Mai 2011


Metropolitan-Universität Prag

Leitung des AKs: Greule Albrecht & Kucharska-Dreiss Elżbieta

Ausschlaggebend für die Zugehörigkeit einer Aussage zur religiösen Sprache ist – so die gängigen Definitionen – einzig und allein ihr Kontext. Dieser wird in der Sekundärliteratur unterschiedlich bezeichnet: als religiöses Leben, religiöse Situation oder Sakralsphäre. Eine wichtige Rolle bei der Gestaltung dieses Kontextes spielt das religiös orientierte – also das auf das Sacrum intentional ausgerichtete – Bewusstsein (vgl. Pałucka 2000). Von ihm hängt es auch ab, ob wir es mit einem religiösen Kontext im weiteren oder im engeren Sinne zu tun haben. Wenn das Bewusstsein das Sacrum sozusagen "von außen", aus einer Distanz zu erkennen versucht, so wie man eine Sache erkennt, dann ist das ein religiöser Kontext im weiteren Sinne. Wenn aber das menschliche Bewusstsein eine Relation mit dem Sacrum eingeht, die den zwischenmenschlichen Relationen gleicht, und in diese nicht nur den Verstand, sondern auch den Willen und die Gefühle einbringt, dann ist dies ein religiöser Kontext im engeren Sinne (vgl. Przyczyna 2007). Daher wollen wir für die anstehende Sitzung des Arbeitskreises "Theolinguistik" genau diese Relation, die das menschliche Bewusstsein mit dem Sacrum eingeht, in den Vordergrund rücken: Wie kommt sie in verschiedenen Texten und Textsorten der religiösen Sprache zum Ausdruck? Wie manifestiert sich sprachlich das individuelle und wie das kollektive religiöse Bewusstsein einer Gemeinschaft? Lässt sich an den religiösen Texten ein (wie auch immer gearteter) Wandel der Relation "menschliches Bewusstsein – Sacrum" ablesen?
Die oben formulierten Fragen sollen in den Referaten weiterführend vertieft werden. Willkommen sind sowohl Beiträge, die sich mit den Texten einer Glaubensgemeinschaft und/oder einer Sprache auseinandersetzen, als auch solche, die Texte mehrerer Glaubensgemeinschaften und/oder Sprachen zum Vergleich heranziehen.


REFERATE:

Angerer Marianne: Die Berichterstattung der österreichischen und der französischen Tageszeitungen über die katholische Kirche - eine medienlinguistische Untersuchung

Medienberichterstattung spiegelt niemals die Wirklichkeit wider, sondern sie selektiert, interpretiert und schließlich – rekonstruiert. Als sogenannte Weltbildapparate schaffen Medien ihre eigene Version der Wirklichkeit. Mein Vortrag im Rahmen des Arbeitskreises „Theolinguistik“ bezieht sich auf die Darstellung des Sacrum im medialen Diskurs und damit in einem areligiösen, säkularen Kontext. Ich möchte mein Dissertationsvorhaben präsentieren, das die Berichterstattung österreichischer und französischer Tageszeitungen über die katholische Kirche zum Forschungsgegenstand hat.
Die medienlinguistische Arbeit geht von der Hypothese aus, dass sich die Konstruktion der Medienrealität unter dem Einfluss der sogenannten Nachrichtenfaktoren und der Welt und Wertvorstellungen des/der jeweiligen Redakteurs/in vollzieht. Diese wirken sich auf seine/ihre Themensteuerung sowie auf die inhaltliche Darstellung dieser Themen aus, welche sich wiederum in der Wahl sprachstruktureller Elemente sowie in manifesten und latenten Wertungen zeigt. In dieser teils unbewusst teils bewusst geschaffenen Medienwirklichkeit wird die Kirche tendenziell negativ dargestellt. Dabei wird die Relation der Kirche zum Sacrum im Wesentlichen außer Acht gelassen. Vielmehr interessiert die Relation der Kirche zum Profanum bzw. zu gesellschaftspolitischen Aspekten.
Mittels einer Kombination aus Inhalts- und Diskursanalyse werden Artikel aus österreichischen und französischen Tageszeitungen (je zwei Qualitätszeitungen und eine Boulevardzeitung) hinsichtlich ihrer Themenfrequenz und ihrer inhaltlichen und sprachlichen Darstellung untersucht. Der Vergleich zwischen dem Österreich des Konkordats und dem laizistischen Frankreich soll zeigen, dass mediale Wirklichkeiten länder- bzw. kulturspezifische Besonderheiten aufweisen, die in diesem Fall von den unterschiedlichen, geschichtlich gewachsenen Verhältnissen zwischen Staat und Kirche und damit von unterschiedlichen Säkularismus-Ausprägungen herrühren.
Im Rahmen des Vortrags werden anhand von einigen repräsentativen Textbeispielen aus Presseartikeln erste Untersuchungsergebnisse der Arbeit vorgestellt.

Bauske Bernd G.: Ex-zentrische Koranübersetzungen

Nach dem esperantosprachigen Koran in Breslau 2010, mit dem wir die Reihe Ex-zentrische Koranübersetzungen eingeleitet haben, wollen wir nun eine weitere ex-zentrische Übersetzung des Koran anhand von Kleinststellen betrachten.
Die Übersetzung des Koran ins Maltesische ist gleich mehrfach ex-zentrisch:
1. Es handelt sich bei ihr um eine Übersetzung, die eine radikal marginale Verbreitung hat:
1a. Auf einer sich als per se christlich verstehenden Insel, die einen europäischen Kleinstaat bildet, übersetzte ein Ordensgeistlicher diesen Koran und publizierte ihn im Eigenverlag.
1b. Die Zahl der Adressaten für dieses Übersetzungsprojekts dürfte innerhalb der kleinen Sprachgemeinschaft des Maltesischen wegen des bewusst christlichen Eigenbildes gegen Null tendieren.
2. Es handelt sich um die Übersetzung des Koran in einen arabischen Dialekt, ein für muslimische Araber aus den „muslimisch-arabischen Ländern“ unvorstellbares Unterfangen, das nur dadurch möglich wird, dass der maltesische maghrebinisch-arabische Dialekt zur Nationalsprache eines „christlisch-arabischen“ Landes wurde, das durch eben diese Tatsache aus dem „arabischen Mainstream“ ausgeschert ist.
Muslime aus dem Maghreb, die diesen Koran wegen der Nähe der Sprachen/des Dialekts als Lesehilfe für den nur schwer zugänglichen originalsprachlichen Koran nutzen könnten, kommen deshalb als potentielle Leser nicht einmal ins Blickfeld (wobei die Verwendung des lateinischen Alfabets für das Maltesische wegen der Präsenz des Französischen in den Maghrebstaaten kein unüberwindliches Hindernis wäre).

Biszczanik Marek: „Die Sprachbetrachtung von Laurentius Albertus in seiner ‚Teutsch Grammatick‘“

Das 16. Jahrhundert war für die Kodifizierung der deutschen Sprache eine besondere Zeit. Damals entstanden die ersten gedruckten, also breiter zugänglichen Kompendien des Wissens über die Regeln des deutschen Sprachsystems. Es würde sich also derjenige zutiefst irren, wer glauben möchte, vor Gottsched (1762) und Adelung (1782) hätte es noch keine Veröffentlichungen dieser Art gegeben. Das 16. Jahrhundert war noch die Zeit, als das werdende Deutsch mit Latein noch zu kämpfen hatte, und zwar in allen Bereichen der Schriftsprache. Umso mehr war es so auf dem Gebiet der Wissenschaften. Nicht anders war es sogar, wenn über die deutsche Sprache wissenschaftlich geschrieben wurde. Falls jemand es auf Latein gemacht hat, war es nicht als ein unzureichendes Ansehen dem Wert der eigenen Sprache gegenüber zu empfinden, sondern vielmehr das Folgen dem damaligen, allgemein akzeptierten, gerade so gelehrten und so gelernten schriftsprachlichen Usus. Bei immer mehreren Versuchen, wissenschaftliche Abhandlungen in der Muttersprache zu verfassen, sollen im 16. Jahrhundert die auf lateinisch verfassten überhaupt nicht verwundern. Das Anliegen ist in diesem Vortrag, eines von den damaligen Kompendien des Wissens über die deutsche Sprache zu schildern, das trotz des fremdsprachlichen Übermittlungsmediums einen sehr hohen philologischen Wert aufweist, nämlich das Buch von Laurentius Albertus vom Jahr 1573. Die deutsche Grammatik vom Laurentius war als ein Lehrbuch oder zumindest eine Hilfsabhandlung für anderssprachige Benutzer gedacht; daher vermutlich das Lateinische als Buchsprache. Sein Buch ist aber nicht nur eine Sammlung von grammatischen Regeln der deutschen Sprache seiner Zeit. Einen beträchtlichen Einstiegsteil widmete er dem Deutschen generell und dessen Stellung unter den anderen europäischen Sprachen.

Fakhr-Rohani Muhammad-Reza: Reflections on Imam al-Husayn's Multiple Designations: Politeness, Speech Acts, and Translations Aspects

Imam al-Husayn, the youngest grandson of the Prophet Muhammad and the 3rd Infallible Imam of Muslims was martyred thirsty by the river Euphrates (together with over 100 of his male companions) on the plain of Karbala, Iraq, on Ashura (10th Muharram) in 61 AH/ 680. Due to the unique sacrifice of Imam al-Husayn for safeguarding Islam, he has since received the highest number of ziarat-texts in Classical Arabic to be recited to pay him homage. In all the ziarat-texts, he is referred to in great esteem, e.g., the inheritor of the missions of all the Divine prophets, the grandson of the Prophet Muhammad, and the martyr whose blood-revenge shall be sought by God, to mention just a few. Imam al-Husayn had several designations and by-names that indicate his unique status and personality; they express politeness toward him in that each of his designations and by-names refers to an aspect of his personality. On the other hand, any polite address or reference toward him makes a religious speech act on a par with paying him homage, i.e., ziarat. However, the very multiple designations and by-names of Imam al-Husayn cause some problems for translating into English the Arabic and/or Persian texts that deal with him. To avoid such translation problems, some ways are suggested, e.g., rendering his designations and by-names in terms of his personal name: Imam al-Husayn.

Greule Albrecht: „Zwischen Arcanum, Sacrum und Profanum. Hypothesen zur deutschen ‚Sakralsprache’ am Beispiel der katholischen Kirche“.

Die Hypothesen lauten: Jede sprachliche Äußerung über religiöse Wahrheiten ist „arkansprachlich“. Es ist unmöglich, heilige Geheimnisse zum Ausdruck zu bringen, ohne dass das Sacrum entsakralisiert wird. Die Bibelübersetzung ins Deutsche verlief in vier Phasen. In der Alltagssprache werden sakrale Begriffe mehr und mehr entsakralisiert. Es existiert ein Circulus vitiosus: Vom Arcanum sacrum zur starren Sakralsprache zur Übersetzung zur Profanierung zur Desemantisierung und Re-Arkanisierung des Heiligen.

Hardi Tamara: Pragmatic analysis of the ecclesiastical communication

Semantics and pragmatics analysis of the ecclesiastical communication is one of the less known fields of the science of professional terminology. The lecture has been designed to analyse the diplomatic usage of the Catholic Church – ecclesiarch sermons, encyclicals, written and verbal manifestations.
Commisive – promissive and directive speech acts of authentic church diplomacy moreover finding direct and indirect utterances are also targeted areas of the lecture.

Helin Irmeli: Was macht ein Lied religiös?

In meinem Beitrag betrachte ich deutsche volkstümliche Lieder und Schlager der letzten Jahre, die inhaltlich religiöse Aspekte oder religiöse Wortinhalte haben. Diese möchte ich mit den eigentlichen modernen Kirchenliedern vergleichen. Welche Unterschiede kann man linguistisch und textuell feststellen? Wo ist hier die Grenze zwischen säkular und religiös zu ziehen? Gibt es weltliche Kirchenlieder und religiöse Schlager? Es werden auch Lieder dieser Art in anderen Sprachen zum Vergleich herangezogen.

Hrdinová Eva Maria: Religiöse Sprache der christlichen Orthodoxie

Der Beitrag widmet sich dem Thema der Sprache der christlichen Orthodoxie (v.a. der Russisch-orthodoxen Kirche) im Deutschen anhand liturgischer Texte im Sinne einer Bestandaufnahme der Situation nach dem Jahre 2000 in der BRD. Da sich diese Kirche traditionell durch einen statischen sprachlichen Charakter auszeichnet, unterscheidet sie sich von religiösen Diskursen anderer Denominationen (wie etwa des Protestantismus oder des römischen Katholizismus), die sich besonders in der letzten Zeit um eine „Aktualisierung“ ihrer „Sprachen“ bemühen (vgl. etwa die Volxbibel, katholische Messrituale für junge Leute usw.). Kann diese These über die Unveränderberkeit des christlich-orthodoxen Diskurses auch heutzutage, in der Zeit der Globalisierung bestehen bleiben? Und wie steht es in diesem Zusammenhang mit den neuesten Übersetzungen der orthodoxen Johanes-Chrysosthomos-Liturgie ins Deutsche? Antworten auf diese Fragen versucht dieser Beitrag zu liefern. Herangezogen werden auch Beispiele aus dem tschechischen Sprachraum.

Kucharska-Dreiss Elżbieta: Gottesbilder auf den Stufen des menschlichen Bewusstseins

Das Referat basiert auf der von Clare Graves begründeten „Ebenentheorie“ der Persönlichkeitsentwicklung, die dem deutschsprachigen Lesepublikum u.a. von dem Autorenteam Marion Küstenmacher / Tilman Haberer / Werner Tiki Küstenmacher in dem äußerst spannenden Buch mit dem Titel „Gott 9.0“ näher gebracht wurde. Graves gelangte zu der Erkenntnis, dass sich die Wertsysteme und Grundüberzeugungen der Menschen aller Kulturkreise zu bestimmten Stufen/Ebenen zusammenfassen lassen, die aufeinander folgen und aufbauen. Auch die Gottesvorstellungen, stellte Graves fest, verändern sich nach festen, vorhersagbaren Mustern, die an den einzelnen Bewusstseinsstufen festgemacht werden können. Im Referat wird gezeigt, wie sich die Bewusstseinsstufen in der Menschheitsgeschichte herausgebildet haben und welche Vorstellungen von Gott für jede dieser Stufen charakteristisch sind. Interessanterweise wiederholt jeder Mensch seit seiner Geburt die Evolutionsgeschichte des Bewusstseins, d.h. durchläuft in seinem Leben die einzelnen Stufen, wobei er in verschiedenen Bereichen unterschiedlich weit kommen kann: Er kann z.B. an Gott 4.0 glauben, im Berufsleben problemlos in 5.0 funktionieren und in der Partnerschaft bereits die Stufe 6.0 erreicht haben. Eingegangen wird im Referat speziell auf die Spuren der einzelnen „Versionen“ von Gott in der Bibel und in den Predigten.

Mihoková Kristína: Paralleltexte als Sprachkorpora

Im Vortrag werden die Unterschiede bei der Benennung von gleichen Erscheinungen, Denotaten in verschiedenen Sprachen behandelt. Konkret werden die slowakischen und deutschen liturgischen Texte verglichen, d.h. auch einige biblische Zitate, vor allem was die verschiedenartige Motivation der identischen Begriffe betrifft. Die Texte erweisen im Laufe der Jahrhunderte in jeder der untersuchten Sprache eine einzigartige Entwicklung, zwar parallel mit der Entwicklung der jeweiligen Schriftsprache. Es geht eigentlich um die Untersuchung der Symmetrie und Asymmetrie in den spezifisch vorkommenden Paralleltexten, die diese Entwicklung widerspiegeln. Uns geht es aber nicht um die Geschichte, nicht um die Bibelübersetzung, sondern um den Vergleich des heutigen Sprachguts. Der Vergleich solcher Sprachkorpora bringt eine neue Sicht auf die unterschiedlichen Ausdrucksweisen in den untersuchten Sprachen.

Mikulová Anna: Über Religion und Gott im Internet – Vox populi, vox Dei

In meinem Vortag erörtere ich zuerst die Problematik der Evaluation und Emotionalität in der Sprache. Ich gehe dabei vom Konzept der Evaluation, wie ihn die sog. Apprasial Theory ausgearbeitet hat. In Bezug auf die sprachliche Emotionalität gehe ich auf die modernsten sprachwissenschaftlichen Theorien zurück.
Als sprachliches Material dienen mir Reaktionen der Leser, die zur elektronischen Form der Artikel verschiedener deutscher und tschechischer Zeitschriften beigefügt sind. Das Thema der einschlägigen Artikel hängt immer mit Religion zusammen.
Ich analysiere emotionale und evaluative sprachliche Mittel in den Reaktionen der Leser. Auf Grund dieser Analyse stellt sich auch heraus, wie Leute verschiedene religiöse Themen verstehen und bewerten.

Schlegel Dorothee: „Sterben und Tod – (Ent)Tabuisierung durch Sprache“

Sterben und Tod sind das Tabuthema Nr. 1 vor Sexualität. Worin manifestiert sich diese Tabuisierung in der Alltagssprache, in Todesanzeigen und bei Menschen, die beruflich mit Sterben und Tod zu tun haben? Die deutsche Sprache bietet eine Fülle von Vermeidungs- und Ausweichstrategien an, u.a. Dysphemismen, Metaphern oder standardisierte Formulierungen aus Religion, Literatur und Tradition – oder wir schweigen. Empirische Untersuchungen zeigen z.T. überraschende Ergebnisse.

Sniadecka Luiza: „Nur die Besten sterben jung“. Zum Wandel einer religiösen Textsorte Sterbebild.

Die Verdrängung des Todes und die Fixierung auf die Diesseitigkeit werden häufig als Symptome für eine „postreligiöse Kultur“ (Nipperday 1988) angesehen. Der Begriff „POST – religiöse Kultur“ schließt auf einen komplexen und fortschreitenden Wandlungsprozess in der Gesellschaft, der zum Niedergang der bisher geltenden Normen und Werte führt. Eine neue moderne und säkulare Gesellschaft und Zivilisation im neuen Zeitalter entsteht. Die angesprochenen Prozesse werden im Vortrag als Indikatoren für den Wandel der religiösen Textsorte Sterbebild auf Makro- und Mikroebene gesehen. Es soll dabei gezeigt werden in welchem Ausmaß die gegenwärtige Kultur des Totengedenkens von Säkularisierungsprozessen geprägt wird und inwieweit die gegenwärtigen Variationen der Textsorte im religiösen Bereich einzuordnen wären.

Thiele Michael: Heilende Predigt

Christus medicus hat uns einen doppelten Auftrag erteilt, nämlich zu verkünden und zu heilen. Jesus selbst hat gelehrt und geheilt. Hätte er nur gelehrt, wäre er wahrscheinlich als bigotter Salbaderer verspottet worden, hätte er nur geheilt, als zwielichtiger Quacksalber.
Wenn wir es denn wissen, so sollten wir die Menschen, die Sinn suchen, aufmerksam machen auf Orte, wo sie Heil finden können. Auch die Kommunikation kann ein solcher Heilsort sein. Die zerstückelten Glieder – des Leibes wie der Kommunikation – werden wieder zusammengesetzt. Die Glieder des Osiris wurden noch zerfetzt und verteilt. Christi Gebeine wurden nicht gebrochen; Christus wurde ‚nur‘ gemartert, wurde gekreuzigt und schließlich verklärt; er ist der alten Blutgrausamkeit schon entronnen und hat uns damit verheißen, dass die mörderische Opferzeit an ihr Ende gekommen ist. Seine Predigt bringt Heil, sein Leben wie sein Tod stiften Sinn.
Verteilt zu sein, die Heimat verloren zu haben, auch die innere Heimat und die innere Mitte, heißt, eines verlässlichen Bedeutungs- und Beziehungssystems verlustig gegangen zu sein; Verlust der Heimat bedeutet Verlust von Identität und heilvollem Leben. Religion und Predigt verfügen, biographisch betrachtet, über eine sinn- und heimatstiftende Aura. Sie öffnen Pfade zu Angenommenheit und heilsamem Dasein. Die Predigt hebt den Selbstwert ihrer Gemeindeglieder, den diese dann an andere weiterzugeben vermögen. Sie übersetzt das Heilsgeschehen in unsere unheile Zeit und macht sie ganz, tentativ und nur im Entwurf, jedoch visionär eschatologisch. Religion und Predigt wollen Sanierung individuellen wie gemeinschaftlichen Lebensvollzugs. Der Prediger redet mit dem Hörer über sein Leben. Heilstiftende Theologie und psychische Salutogenese setzen auf die Wirkkraft des Wortes.
Gesund ist der, der seinen Organismus transzendiert und sich an den Mitmenschen hingibt, auch an die von Gott geschaffene Welt und den Geist, den Geist der Schöpfung und den Geist der Liebe, der den Egoismus entgrenzt und Verstand, Willen und Gefühl auf den anderen ausrichtet und damit auch auf das Sakrum.
Gesund wird der, der seine Existenz reformuliert. Biblisch gesehen, geht Gesundung mit der Konstituierung einer neuen personalen Eigenständigkeit einher. Heilsame Interaktionsstrukturen sind zu innervieren. Sie initiieren das, was das Stiften von Sinn und das Geben von Heil endlich bringen: Befreiung. Predigt hallt wider im ‚Hallraum der Herzen‘, indem sie heilt, weil sie befreit.

Tkachov Yuriy: Die lateinische Schrift in den ostslavischen Kulturen und das Problem der Identifizierung der Kyrillika und der Lateinschrift in den slavischen.Sprachen mit der „orthodoxen“ und der „katholischen“ kulturellen Welt

Dieser Vortrag ist einem der schwierigsten und strittigsten Probleme in der gegenwärtigen slavischen (vor allem ostslavischen) Sprachwissenschaft gewidmet. In dem Vortrag sollen unter anderem die folgenden Hauptfragen beleuchtet werden:
1. Die traditionelle Auffassung über die Grenze der Verbreitung und Verwendung der Kyrillika und der Antiqua in den slavischen kulturellen Welten als die Grenze zwischen den „orthodoxen“ und „katholischen“ (darunter auch teilweise „protestantischen“) slavischen Völkern.
2. Meine Kritik an dieser Auffassung und der Versuch, zu beweisen, dass die Lateinschrift und die Kyrillika (im Unterschied eigentlich zu einigen anderen Schriften, z. B. zur hebräischen Schrift, die mit der jüdischen Religion – vor allem mit der kabbalistischen Lehre – sehr verbunden ist) schon seit dem Mittelalter mit keiner bestimmten Konfession im unmittelbaren Zusammenhang stehen und in erster Linie nicht als besonderes Element einer nationalen geistigen Kultur (oder mehreren Kulturen) dienen, sondern als Mittel zu der schriftlichen Übermittlung von Gedanken und Informationen in einer bestimmten Sprache.
3. Eine kurze Analyse des Alphabets, mit dessen Hilfe eine Reihe von Texten aus dem 17. bis Anfang des 20. Jahrhunderts auf ostslavischen (in erster Linie südostslavischen) Territorien geschaffen und in der altrussischen, der altsüdrussischen (d.h. altukrainischen), der ukrainischen oder der weißruthenischen Sprache eben mittels der Lateinschrift oder sogar einer gemischten, aus sowohl den kyrillischen als auch den lateinischen, in der Kyrillika nie davor existierenden Buchstaben bestehenden Schrift geschrieben (und gedruckt) wurde. Markante Beispiele für solche Texte sind das theologische Werk „Ključ razumenija“ („Der Schlussel zum Verständnis“) von Ioannikij Galjatovskij (Mitte des 17. Jh.’s), frühe Gedichte von Simeon Polockij im Altrussischen (Mitte des 17. Jh.’s), Gedichte von Jurij Fed’kovyč im Ukrainischen (Mitte des 19. Jh.’s), verschiedene Werke der ukrainischen schönen Literatur sowie ostslavische wissenschaftliche und Lehrtexte aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dem Anfang des 20. Jahrhunderts im Österreichischen (Österreich-Ungarischen) Reich - wie z. B. der in Lemberg (L’viv) zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts veröffentlichte Weltatlas mit Kommentaren in Ukrainisch. Die Ursachen für die Entstehung dieser Texte und die Verwendung dieser Schriften, z. B.: Die Unmöglichkeit der genauen Widerspiegelung der Laute in der ukrainischen oder der weißruthenischen Sprache jener Zeit mittels der Kyrillika; der Einfluss der polnischen und der deutschen Kultur auf die „westlichen“ Ostslaven in Polen und Österreich (im 16. bis Anfang des 20. Jh.’s); das Fehlen eines einheitlichen ukrainischen (genauso wie eines einheitlichen weißruthenischen) Alphabets bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts; die Wahrnehmung der Lateinschrift als Attribut der Kultur des „einheitlichen Europas“ (als Attribut der europäischen Zivilisation) und der Kyrillika als Attribut des so genannten „Halbasiens“, nach der Meinung einer Reihe von Intellektuellen, u. a.
4. Meine Beurteilung der Versuche einiger Wissenschaftler, die kyrillische Schrift, die sich im Kiewer Reich (Rus’) erst während der Christianisierung der Ostslaven am Ende des 10. Jahrhunderts verbreitete (die ersten Bücher auf dem ostslavischen Boden wurden eben in dieser Schrift verfasst), als „unabdingbares“, „ewiges“ Element der Kulturen der ostslavischen Nationen – das der Antiqua scharf entgegengestellt wird – darzustellen.
5. Schüchterne Versuche, das alte ukrainische (genauer gesagt: westukrainische) Alphabet, dem die Antiqua zugrunde lag, in der heutigen Ukraine (vor allem in der Westukraine) wieder herzustellen. Die Ursachen dieser Versuche.
6. Die Schlussfolgerungen. Meine Bemerkungen über die Rolle der Lateinschrift in den ostslavischen Kulturen.


Die meisten dieser Beiträge sind erschienen in Theolinguistica 7


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